FRIEDER HOFMANN I POSITIONEN I PUBLIKATIONEN I PROJEKTE

Das Greifswalder Experiment

Auszug aus: F. Hofmann "Die Besten in den Osten" - Erinnerungen 2002-13 / F. Hofmann 2015

Hochschulabsolventen konnten sich ihren Arbeitsort in der DDR nur begrenzt selbst aussuchen. In der Regel wurden sie an die Brennpunkte der DDR-Wirtschaft geschickt. Wir „Moskauer“ machten da keine Ausnahme, und so landeten meine Frau und ich in Greifswald. Die Stadt, Sitz einer kleinen, aber feinen Universität mit einem medizinischen Zentrum der Herzchirurgie und Standort der Elektronik-Industrie war ein solcher Schwerpunkt. Am Greifswalder Bodden entstand das Kernkraftwerk „Bruno Leuschner“, Schwerpunktprojekt zur Energieversorgung des Landes. Greifswald besitzt aber auch eine historische Altstadt, die durch ihre markante Silhouette schon aus der Ferne zu erkennen ist. Die kampflose Übergabe der Stadt an die sowjetischen Truppen am Ende des Krieges hatte dazu geführt, dass dieses bauliche Erbe fast vollständig unzerstört blieb. Die DDR-Planwirtschaft mit ihrem permanenten Mangel an Arbeitskräften und Baustoffen war bis dahin nicht ansatzweise in der Lage gewesen, die in Teilen noch aus dem Mittelalter stammende Bausubstanz zu erhalten und zu modernisieren.

Die Besonderheiten des Planens an der Küste

Der VEB Wohnungsbaukombinat Rostock besaß in Greifswald eine Niederlassung mit einem Plattenwerk, aus dem die Fertigteile für die Neubauten am Stadtrand stammten. Eine Planungsabteilung des WBK besorgte die Planung von Bauvorhaben im Stadtgebiet von Greifswald und im Ostteil des Küstenbezirks Rostock. Dazu war die Abteilung „komplex“ zusammengesetzt, d.h. sie bestand aus praxiserfahrenen Architekten, Tragwerksplanern, Haustechnikern (Heizung, Sanitär, Elektro), Tiefbauingenieuren und einem Grünplaner. Mit diesen Fachkräften war sie in der Lage, ihrem Auftraggeber, dem HAG Komplexer Wohnungsbau, komplette Planungsleistungen zu liefern. Vorrangig ging es dabei um die Planung von Plattenbauten, aber man verfügte über ausreichende Erfahrungen, um auch mit Vorhaben in traditionellen Bauweisen fertig zu werden. 

Stadtsanierung aus dem Plattenwerk 

1975 wurde unsere Planungsabteilung beauftragt, im Rahmen des Staatsplans „Wissenschaft und Technik“ den „Ersatzneubau“ für das 1. Umgestaltungsgebiet im Greifswalder Stadtzentrum zu planen. Für unsere Brigade war das eine umfangreiche und ambitionierte Aufgabe. Für mich ging es um ein Projekt, das bereits Thema meiner Diplomarbeit gewesen war. Grundlage des Vorhabens bildete ein DDR-weites Forschungsprojekt zur Stadtsanierung, das neben Greifswald auch die Sanierung der Stadtzentren von Gotha und von Bernau bei Berlin zum Gegenstand hatte. Anders als bei der Planungsidee für Bernau ging es in Greifswald aber um die Erhaltung der historischen Quartierstruktur des Planungsgebietes und die Wiederherstellung der traditionellen Baufluchten. Dafür sollten neue Gebäude aus einer modifizierten Plattenbauweise entwickelt und möglichst zeitgleich die im Umgestaltungsgebiet befindlichen denkmalgeschützten Altbauten saniert werden. Die Bewohner des Viertels sollten vor dem Beginn der Baumaßnahmen in ein Bauzeithotel umziehen und nach Abschluss des Vorhabens wieder in ihr neues altes Viertel zurückziehen können.

Unserer Beauftragung war ein kombinatsinterner städtebaulicher Ideenwettbewerb vorausgegangen, an dem sich neben den Rostocker WBK-Architekten mit mehreren Kollektiven auch ein Team des Instituts für Städtebau und Architektur (ISA) der Bauakademie Berlin beteiligt hatte. In der Anfangsphase bekamen wir deshalb regelmäßig Besuch von den Berlinern unter Leitung von Prof. Achim Felz, die bei der Suche von Lösungen mitdiskutierten und ihre eigenen Ideen in die Gesamtplanung einbrachten. Dieser Prozess gestaltete sich interessant und spannend – ging es doch darum, nicht nur architektonische, sondern auch technologisch neuartige Lösungen zu entwickeln. Heftige Diskussionen gab es um eine städtebaulich „richtige“ und funktionstüchtige Dachlösung. Während die Entwürfe des Ideenwettbewerbs ausschließlich traditionelle Mansarddächer mit geneigten Fensterflächen anboten, entschieden wir uns nach vielem Für und Wider für eine moderne Terrassenlösung aus Montageteilen mit einer schräg gestellten Brüstung aus farbig beschichtetem Profilblech. Interessanterweise gab es Jahre später in Leipzig einen ähnlichen Streit um den Musterbau in der Leipziger Kolonnadenstraße (auch dabei ging es um Mansarddächer oder Dachterrassen). Als der dortige Technische Direktor die Frage stellte, wer denn „hier im Raum schon einmal eine wasserdichte Terrassenlösung geplant und gebaut“ hätte (ein für DDR-Baukombinate schwer lösbares Qualitäts- und Materialproblem), konnte ich auf meine Erfahrung aus dem Greifswalder Modellvorhaben verweisen.

Quark und Eier für den Denkmalschutz

Hochinteressant gestaltete sich die denkmalgerechte Sanierung der die Altstadt dominierenden Marienkirche. Dieser noch aus dem 15. Jahrhundert stammende Backsteinbau war schon auf auf einer der Schautafeln meiner Diplomarbeit ein „Hingucker“, weil er mit seiner Baumasse hinter einer Häuserzeile stand, die dadurch wie ein Spielzeug wirkte. Wie ich mich erinnere, wurde die Kirchensanierung von Schweden kofinanziert. Die für die Innenausmalung verwendeten Farben wurden streng nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten ausgewählt und nach streng mittelalterlichen Rezepturen (mit Beimischung von Quark und Eiern) per Hand hergestellt. Die Kirchgemeinde der Marienkirche soll von dem Ergebnis aber anfänglich überhaupt nicht begeistert gewesen sein. Da sich die neue Farbgebung aus im Mittelalter üblichen kräftigen Rot- und Blautönen ergab, konnten sich die Leute nur schwer mit dem „neuen“ Interieur anfreunden, da sie ihren bekannten Innenraum von früher her grau in grau mit verblassten Fresken kannten.

Greifswald? Ja, da weint man zweimal ... *)

Mit dem Blick auf die verfügbaren Mittel und Möglichkeiten des Bauwesens war die Zielsetzung des Greifswalder Projektes umfassend und ambitioniert. Wegen der großflächigen Anwendung der Plattenbauweise im historischen Umfeld wurde das Vorhaben aber u.a. auf der ICOMOS-Tagung 1977 in Rostock von Denkmalschützern heftig kritisiert. DDR-weit fand das Resultat große Anerkennung, erschienen die neuen 3-4-geschossigen Häuser mit ihrer Kleinteiligkeit, der individuellen Farbgebung und den Läden in den Erdgeschossen der Eckhäuser völlig anders als die landesweit üblichen Blöcke der WBS 70-Baureihe. Durch die Weiterführung dieser Baustrategie in den Folgejahren ist das heutige Greifswalder Stadtbild allerdings stark von Plattenbauten überformt, deren historisierende Gestaltung in den später realisierten Baufeldern schlechter ins Stadtbild passt als die zeitlose Architektur des 1. Umgestaltungsgebietes. Angesichts fehlender Baukapazitäten zur Sanierung der überalterten Bausubstanz gab es aber m. E. keine Alternative zum angewandten industriellen Plattenbau. So stand auch die Wiederherstellung der für das Stadtbild eminent wichtigen Altbauten an der Nordseite des Greifswalder Marktes lange Zeit zur Disposition. Zum Glück konnte diese Häuserzeile nach 1990 gerettet werden, denn eine Plattenbaufassade hätte der historische Marktplatz mit Sicherheit nicht vertragen. 

*) Zeile eines Gedichtes von Berta Waterstradt (1907-1990) über Greifswald und seinen heimlichen Charme. 
Die vollständige Strophe geht so: "Und es sagt im Café Mensa uns ein Mädchen, das aus Schwedt: 
Greifswald? Ja, da weint man zweimal - wenn man kommt und wenn man geht."

Dr.-Ing. Architekt Frieder Hofmann 
gpfhofmann@parus-le.de    

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Aktualisierung: Januar 2024 

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