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«Der rechte Winkel zieht mich nicht an»
Fiktives Interview mit dem Architekten Oscar Niemeyer (1907-2012)

Die "Sphere" im Leipziger Kirow-Werk (Foto 2021) / Kugeldurchmesser: 12 m / Stahlbetonschale: 20 cm / 3 Geschosse / Idee: О. Niemeyer / Architekten: Jair Valera - Rio de Janeiro / Harald Kern - Leipzig


H.: Sehr geehrter Professor Niemeyer, warum haben Sie sich entschlossen, Ihre „Sphere“ gerade in Leipzig zu errichten?

О.N.: Nun ja, die Sache war etwas anders. Nicht ich an sie, sondern die „Kirow-Leute“ haben sich an mich gewandt. Sie waren von meinen Arbeiten begeistert und wollten von mir etwas ähnliches haben. Dafür gaben sie mir völlige künstlerische Freiheit. Die Maschinenbaufirma „Kirow“ hat uralte Traditionen. Es ist bekannt, dass sie über Ingenieure verfügen, die in der Lage sind, beliebige Projekte in ausgezeichneter Qualität zu realisieren. Und Leipzig als Stadt mit Wachstumspotenzial braucht neue Anreize im Architektur-Bereich. 

H.: Mir scheint, daß Ihre Kugel sämtlichen Grundsätzen der klassischen Architektur - der Maßstäblichkeit, der Tektonik, der gestalterischen Geschlossenheit widerspricht ...

О.N.: Keine Einwände, aber wir reden hier nicht über die Akropolis. Ich bin nicht mehr weit von der 100 entfernt, deshalb habe ich mein O.K. mit dem Einwand gegeben, dass meine Zeit begrenzt ist. Wir mussten uns deshalb auf etwas Kleineres konzentrieren, das in der Sonne glänzt und nachts von innen strahlt. Natürlich sollte es auch meine Handschrift ausdrücken. So wurde die Idee mit der Kugel geboren. 
Die Deutschen sind stolz auf ihre ingenieurtechnischen Errungenschaften, doch die heutige Architektur in Deutschland ist phantasie- und geschmacklos. Betrachten Sie die fürchterlichen abgehängten Säulen in der Leipziger Universitätskirche und den Eklektizismus des neuen Pseudo-Palastes in Ostberlin. Und da war da noch irgendsoein Tscho- … zum Teufel, jetzt habe ich den Namen vergessen (lacht) – der vorm Berliner Fernsehturm mittelalterliche Gässchen und Fachwerkbuden installieren wollte. Ganz klar, das ist der Bankrott der Architektur vor der Geschäftemacherei. Im Prinzip ist das Pfusch, der in keinster Weise den Anforderungen an unser Leben im 21. Jahrhundert gerecht wird. 

Die "Sphere" im Leipziger Kirow-Werk / Cafe-Bar / Verglasung: 144 dreieckige Fenster mit Isolierverglasung / Interieur der Eingangsetage mit der Wendeltreppe zum Obergeschoss / Foto: Kirow - М. Hoppe und S. Stumpf 2021


H.: Meinen Sie nicht, dass Sie für die Lösung dieser Aufgabe nicht zu tief in die „Reklame-Kiste“ gegriffen haben?

О.N.: In jeder Architektur steckt eine gewisse Reklame-Botschaft: Politische, gesellschaftliche, private (vom Bauherren beauftragt) und ebenso natürlich vom Architekten selbst. Nun gibt es auf der Welt eine große Zahl einmaliger Ingenieurbauwerke (wie den Eiffelturm, die Golden Gate Bridge in San Francisco und den bereits erwähnten Berliner Fernsehturm, darunter auch einige meiner Bauten wie das Auditorio do Parque do Ibirapuera in Sao Paulo), die sich nicht mit den strengen Normen der klassischen Architektur bewerten lassen. Dennoch wurden sie zu Wahrzeichen von Landschaften und Dominaten des Städtebaus. 
- Und die „Sphere“? Sie ist ein Symbol des Erfolgs von „Kirow“, ein Qualitätssiegel ihrer Erbauer und ein Zeichen dafür, dass die Zukunft nicht den Ruinen der Fürstenpaläste gehören wird. 

H.: Die kommerzielle Komponente in der Architektur ist für mich ein sehr trauriges Problem. Eine taktlose Einmischung in architektonische Belange finde ich nicht akzeptabel, aber leider wird das heutzutage viel zu oft hingenommen.

О.N.: Richtig, aber das ist eben der Kapitalismus. Wer das Orchester bezahlt, bestimmt die Musik. Die Kommunisten sind die einzigen, die immer noch eine bessere Welt schaffen wollen. Ein möglicher Ausweg aus der Lage: Das Tanzen aufgeben. Doch ich fürchte, daß wir beide, so wie auch die meisten Architekten, viel zu gerne tanzen (lacht). 

H.: Verehrter Oscar Niemeyer, ich danke Ihnen sehr für dieses umfassende und interessante Gespräch. 


Das Gespräch führte unser lateinamerikanischer Sonderkorrespondent Felipe Huerta.
Deutsche Übersetzung: F. Hofmann

Dr.-Ing. Architekt Frieder Hofmann 
gpfhofmann@parus-le.de    

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Aktualisierung: Januar 2024 

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