Und weil die Gesellschaft inzwischen mehrheitlich zum Trinken übergegangen war, sah man zu fortgeschrittener Stunde schwankende Gestalten im gelben Licht der Straßenlampen durch das Schneegestöber über die tief verschneite Dorfstraße schwanken. Das Örtchen selbst war in untadeligem Zustand. Als ich viele Jahre später Arbeit im „hohen“ Norden der DDR gefunden hatte und beruflich zwischen Rostock und Greifswald pendelte, kehrte ich manchmal in einer kleinen Kneipe hinter Tribsees ein, die genau ein solches Freiluftklosett besaß. Nur eine Kleinigkeit fehlte: In Tribsees gab es keinen Schneesturm.
Der zweite Blitzschlag traf das Trafohäuschen. Für den Gang zur «заведение» wurden Taschenlampen ausgegeben, die Musik aber auf ein batteriebetriebenes Kofferradio umgestellt. So tanzten wir Kasatschok und Tango aus dem Programm des Radiosenders „Majak“ und alle, die sich nach dem Festmahl zum Gespräch zurückgezogen hatten, trafen sich nun dicht gedrängt auf der kleinen Tanzfläche wieder.
Ich tanzte mit Maria, so hieß das Mädchen mit den hungrigen Augen, die schon vor dem Tanz alles über mein Leben in der DDR hatte wissen wollen. Als dann die Glocken des Moskauer Spasskiturms im Radio das Neujahr einläuteten, war es einer jener Momente, in dem ich, der unbeholfene Tolpatsch, der ich damals war, sie, die rätselhafte Schöne zu küssen versuchte. Sie stieß mich zurück und ich spürte einen eiskalten Hauch von Vanille, der vermutlich von ihren blassen Lippen ausging.
Die Babuschka (die mit dem Eierlikör) sah unsere Begegnung und raunte mir beim Aufbruch an der Haustür zu:
Du musst dich ihr ganz hingeben – oder halt dich von ihr fern. Denn sonst wird sie dich … Ihre weiteren Worte verschluckten das Klappen der Tür und das Heulen des Schneesturmes.
Ich schlich mich in den Klubraum zurück und suchte mir einen Schlafplatz neben meinen Freunden auf einer der an der Wand stehenden Bänke. Gut abgefüllt schlief ich schnell ein, wurde aber im Morgengrauen von einem Krachen und einer leisen Berührung am Hals geweckt. Verzweifelt schlug ich um mich – und traf eine Fratze mit gefletschten Zähnen, die irgendwie – unglaublich – aber vielleicht doch – Maria ähnlich sah. Über mir hing die Hausikone mit der Gottesmutter, deren Lippen von einem stummen Schrei aufgerissen schienen, während der kleine Jesus in ihrem Arm jammernd auf einen blutigen Kratzer im Gesicht zeigte. Draußen krähte krächzend ein Hahn. Bei allem Grauen fragte ich mich, wie ein Hahn bei solcher Kälte noch einen Ton hervor bringen konnte. Wilde Wut entstellte das Gesicht Marias und sie stieß einen gemeinen Fluch aus.
Der Hahnenschrei wiederholte sich, und das Zerrbild Marias zerfloss. Eine Tür schlug zu, der Hahn krähte zum dritten Mal und ein unangenehm eiskalter Hauch von Vanille wehte durch das Zimmer. Meine Freunde auf ihren Bänken schliefen reglos und fest. Vorm Fenster graute ein eiskalter und schneefreier roter Morgenhimmel.
Als ich einem meiner Gastgeber beim Frühstück – ohne einen Namen zu nennen – diese Geschichte er-zählte, lachte er leise und sagte: Да, безусловно бывают иногда странные вещи в Новогодной ночи … Однако — безуслов7но ты знаешь*) – Mysterien haben in Russland eine lange literarische Tradition: Der Kampf der "Wächter des Lichts" gegen das Dunkel bei Lukianenko, Bulgakows Voland und sein Kater Begemot - es gibt sogar einen deutschen Dichter – er heisst, wenn ich mich recht erinnere Hoffmann, der in einer seiner Erzählungen in der Banja drei Teufel ein Bankett veranstalten und ein nacktes Mädchen namens Tanjuscha verspeisen lässt. Da bist du, cha-cha, nochmal richtig gut weggekommen … Nun nimm und trink was von dem, mit dem du vorm Schlafengehen aufgehört hast. – Danach führte er uns durch „seinen“ Kolchos und den Stolz des Dorfes, die Legebatterie mit zweitausend Hühnern, unter denen sich wohl der Hahn befinden musste, der mir mit seinem Krähen am Neujahrsmorgen die Freiheit und Unabhängigkeit gerettet hatte.
Am späten Nachmittag verabschiedete uns das Dorf an der Bahnstation mit allen guten Neujahrswünschen. Maria war nicht dabei. Als wir mit der „Elektritschka“ wieder nach Moskau zurück fuhren, jubelten meine Freunde voller Glückseligkeit und im festen Glauben, eine einzigartige Neujahrsnacht erlebt zu haben. Nur ich schwieg und grübelte mit traurigem Herzen, zerrissener Seele und schwerem Schädel – weil ich nicht daran zu denken wagte, welchen meiner Freunde Maria in der Neujahrsnacht noch berührt (oder vielleicht gebissen?) hatte ...
Im heißen Sommer des Jahres 1973 erhielt ich einen Telefon-Anruf. Er kam von Maria, die mir berichtete, dass sie in Deutschland sei und mich unbedingt treffen müsse. Ich war höchst verlegen und erklärte ihr, dass ich buchstäblich vor meiner Hochzeit stünde, aber dennoch gerne bereit sei, sie zu sprechen – wo sie denn abgestiegen sei …?
Ein kurzer Moment, in der ich zwei hungrige Augen auf mich gerichtet spürte, danach ihre bekannte Stimme, die in kaltem Ton entgegnete, FESTSTELLTE, dass ein Dürstender und Hungriger nie und nimmer mit einem Satten auf einen Nenner kommen könne. Dann klickte es – und im Hörer war es still.
Maria sah ich nie wieder. Viele Jahre später erzählte mir ein Freund, dass sie mit einem unserer damaligen Moskauer Aspiranten, einem staubtrockenen und farblosen Bücherwurm nach Jena gegangen sei. Dort fand man sie im Morgengrauen nach einer Vollmondnacht – tot, auf den rostigen Gleisen einer schon lange Zeit stillgelegten Vorortbahn.
*) Dt.: Ja, zweifellos geschehen in der Neujahrsnacht manchmal seltsame Dinge. Aber wie du sicher weisst ...
Diese Erzählung beruht auf einer wahren Begebenheit und einer der Phantasie des Erzählers entsprungenen fiktiven Fortsetzung. Mystische Vorgänge und Geistererscheinungen gehören seit Menschengedenken zur Kultur der Völker unserer gemeinsamen Welt, so auch der Völker Russlands. Daran soll hier dankbar erinnert werden (1969 / 2014)