Wenn ich mich recht erinnere, war es das zweite Jahr unseres Studiums im großen Damals-Noch-Bruderland. Nachdem wir unser Semesterpensum erfolreich absolviert hatten, folgten wir dem Rat unserer russischen Freunde und entschlossen uns, das Neujahrsfest im Umland von Moskau zu feiern.
In jenem Winter herrschte, wie man es heute zu sagen pflegt, eine bittere Kälte, als wir vom Kiewer Bahnhof Moskaus mit einer „Elektritschka“, (der russischen Regionalbahn) in ein tief verschneites Wunderland aufbrachen. Nach längerer Fahrt hielt die Bahn an einem Perron, einem Bahnsteig, hinter dem sich eine schier endlose Schneewüste erstreckte. Hinter dem Perron verlief ein in den Schnee getretener Pfad, der an einer Linie im Irgendwo den auf Ort traf, den die Freunde für unsere Neujahrsfeier auserkoren hatten.
Als die Bahn schnell und fast lautlos in einer Schneewolke entschwunden war, erblickten wir unser „Empfangskomitee“, das uns trotz dick vermummter Köpfe und Körper herzlich in seine dick verpackten Arme schloss. Wir sahen in lachende, dampfende Gesichter, unter ihnen ein Mädchen, das mich nachdenklich aus kalten hungrigen Augen anstarrte – und dann machten wir uns auf den Weg durch das schwindende Dämmerlicht. Nach vielleicht 20 Minuten wurde es schließlich Nacht und wir erreichten die Häuser des Dorfes, die sich auf beiden Seiten einer zugeschneiten Straße mit schwankenden Straßenlampen in den Schnee duckten.
Der auf unserem Weg heftig wehende Wind hatte inzwischen weiter zugenommen, so dass die gelben Lichtstrahlen der Lampen nur spärlich durch den Wirbel der Schneeflocken auf die Straße und unsere kleine Gesellschaft hinunter drangen. Unsere Füße waren schon bedenklich kalt, als man uns über eine Vortreppe in eins der alten Holzhäuser bat. Im тамбур, dem Vorsaal, war es aber behaglich warm und sehr eng, als ob eine Großfamilie Mäntel, Mützen, Schals und Heerscharen von Filzstiefeln in Haufen abgelegt hätte. Und so war es auch: Das ganze Dorf hatte sich hier versammelt, um die Attraktion des Abends – seine ausländischen Gäste - begrüßen und mit ihnen zusammen das Neue Jahr zu feiern. Man reichte uns herum, erkundigte sich nach Neuigkeiten aus der großen weiten Welt und befragte uns über das Leben in der GDR. Als angehende Architekten waren wir beeindruckt von der zweckmäßigen Einrichtung des uns umgebenden Hauses (es stammte, wie wir hörten, aus dem 18. Jahrhundert und diente als Klubraum für die im Jahr anfallenen Festlichkeiten ).
Wir zeigten uns verwundert, dass das Dorf, im Hinblick auf Moskau, zwar in der NÄHEREN Umgebung der Hauptstadt gelegen war, aber nur über die eine Straße zur Bahnstation verfügte. Man belehrte uns, dass der Kolchos des Ortes eine autonome Trafostation und ein Notstromaggregat besaß, das in der Lage war, das Dorf nicht nur an Feiertagen, sondern auch an normalen Arbeitstagen mit Strom zu versorgen.
In dieser Sekunde – ein Wintergewitter – schlug ein Blitz ein. Für den Moment wurde es im Raum bläulich hell und der Kronleuchter an der Decke flackerte kurz auf. Auch die Kerze unter der Hausikone, einer hübschen Gottesmutter, die ihr kleines Jesuskind im Arm hielt, erlosch und flammte kurz darauf wieder auf. Unsere Gastgeber lachten über diesen Fingerzeig Gottes (wie sie meinten) und begannen, Geschirr und Speisen für das Abendessen auf den Tisch zu stellen.
In kurzer Zeit bog sich der Esstisch in der Mitte des Raumes von der Menge aufgetragener Speisen und Getränke. Wir hatten das im großen Sowjetland schon oft erlebt – hier wurden unsere Erwartungen aber gleich mehrfach übertroffen. Zumal – wenn eine der Speisen – dunkles Brot, Würste, Fisch, Braten, eingelegtes Saures, Kwas, Wodka in Flaschen und Gläsern zu fehlen begann, verschwand einer der Gastgeber unter dem Tisch und reichte das Fehlende alsbald nach. Auf dieses „Tischlein deck dich“ angesprochen, öffneten unsere Gastgeber lachend eine Klappe im Fußboden, durch die man in einen mit Lebensmitteln und Getränken übervoll bestückten Keller hinunter steigen konnte.
Auch wir packten nun unsere bescheidenen Mitbringsel aus: Rotstern-Katzenzungen und selbstgemachten Eierlikör (wegen der Exotik), dessen letzte Tropfen sich eine der anwesenden Babuschki genüßlich vom ausgestreckten Finger leckte.
Natürlich blieb es bei dieser Fülle nicht aus, dass einer der Gäste nach draußen ging, um eine «заведение» aufzusuchen, (die nach der „Wende“ einer meiner westdeutschen Partner als „Keramikausstellung“ zu nennen pflegte). Da ich nicht wusste, wie diese «заведение» (dt. Einrichtung) zu finden war, wurde ich vom Gastgeber folgenderrmaßen eingewiesen: Du musst dir etwas überziehen, damit du dir nichts erfrierst. Dann gehst du die Hauptstraße hinunter, bis du an ihrem Ende auf eine Hütte mit zwei Türen stößt. Die linke ist für девушки (Mädels) und die rechte für Kerle. Du kannst es nicht verfehlen.