FRIEDER HOFMANN I POSITIONEN I PUBLIKATIONEN I PROJEKTE

 

uch wir packten nun unsere bescheidenen Mitbringsel aus: Rotstern-Katzenzungen und selbstgemachten Eierlikör (der Exotik wegen), dessen letzte Tropfen sich eine der Babuschki genüßlich vom ausgestreckten Finger leckte.

Natürlich blieb es bei dieser Fülle nicht aus, dass nach und nach einer der Gäste nach draußen ging, um eine «заведение» (die einer meiner westdeutschen Partner nach der „Wende“ als „Keramikausstellung“ zu nennen pflegte) aufzusuchen. Da ich nicht wusste, wie diese «заведение» (auf dt. Einrichtung) zu finden war, wurde ich vom Gastgeber wie folgt eingewiesen: Du musst dir etwas überziehen, damit du dir nichts erfrierst, dann gehdie Hauptstraße hinunter, bis du auf eine Hütte mit zwei Türen stößt. Die linke ist für девушки (Mädels) und die rechte für Kerle. Du kannst es nicht verfehlen.
Und weil die Gesellschaft inzwischen mehrheitlich zum Trinken übergegangen war, sah man in fortgeschrittener Stunde schwankende Gestalten im gelben Licht der Straßenlampen durch das Schneegestöber über die tief verschneite Dorfstraße stapfen. Das Örtchen selbst war in untadeligem Zustand. Als ich Jahre später Arbeit im „hohen“ Norden der DDR gefunden hatte und beruflich zwischen Rostock und Greifswald pendelte, kehrte ich in einer kleinen Kneipe hinter Tribsees ein, die über ein ebensolches Freiluftklosett verfügte. Es fehlte nur eine Kleinigkeit: In Tribsees gab es keinen Schneesturm.

Der zweite Blitzschlag traf das Trafohäuschen. Für den Gang zur «заведение» wurden Taschenlampen ausgegeben, die Musik aber auf ein batteriebetriebenes Kofferradio umgestellt. So tanzten wir Kasatschok und Tango nach dem Silvesterprogramm des Radiosenders „Majak“ und alle, die sich nach dem Festmahl zum Gespräch zurückgezogen hatten, trafen sich nun dicht gedrängt auf der kleinen Tanzfläche wieder.
 Ich tanzte mit Maria, denn so hieß das Mädchen mit den hungrigen Augen, die von mir schon vor dem Tanz alles über mein Leben in der DDR hatte wissen wollen.
Als im Radio die Glocken des Moskauer Spasskiturms das Neue Jahr einläuteten, war es einer der trunkenen Momente, in dem ich, der Halbstarke, der ich damals war, sie, die herbe Schönheit zu küssen versuchte. 
 

Sie stieß mich zurück und ich verspürte einen seltsamen, eiskalten Hauch von Vanille, der vermutlich von ihren blassen Lippen ausging. 

Die Babuschka (die mit dem Eierlikör) sah unsere Begegnung und raunte mir beim Aufbruch an der Haustür zu: Du musst dich ihr ganz hingeben – oder halt dich besser von ihr fern. Denn sonst wird sie dich … Dann verschluckten das Klappen der Tür und das Heulen des Schneesturmes ihre Worte.

Ich kehrte in den Klubraum zurück und suchte mir einen Schlafplatz neben meinen Freunden auf einer der der an der Wand stehenden Bänke. Gut abgefüllt schlief ich schnell ein, wurde im Morgengrauen aber von einem Krachen und einer leisen Berührung am Hals geweckt. Verzweifelt schlug ich um mich – und traf eine Fratze mit gefletschten Zähnen, die irgendwie – unglaublich – aber vielleicht doch – Maria ähnlich sah. Über mir hing die Hausikone mit der Gottesmutter, deren Lippen von einem stummeSchrei aufgerissen schienen, während der kleine Jesus neben ihr jammernd einen blutigen Kratzer im Gesicht aufwies.

Draußen krähte leise krächzend ein Hahn. Bei allem Grauen fragte ich mich, wie ein Hahn in solcher Kälte noch einen Ton hervorbringen konnte. 
Wilde Wut entstellte das Gesicht Marias und sie stieß heiser einen gemeinen Fluch aus. Der Hahnenschrei wiederholte sich, und das Zerrbild Marias zerfloss.

Eine Tür schlug zu, der Hahn krähte zum dritten Mal und ein unangenehm kalter Hauch von Vanille wehte durch das Zimmer. Meine Freunde auf ihren Bänken schliefen reglos und fest. Vorm Fenster graute ein eiskalter und schneefreier Morgenhimmel.

Als ich einem meiner Gastgeber beim Frühstück – ohne Namen zu nennen – diese Geschichte er-zählte, lachte er leise und sagte: Да, безусловно бывают странные вещи в Новогодной ночи … Однако — наверно ты знаешь*) – Mysterien haben in Russland auch eine lange literarische Tradition: Der Kampf der Wächter des Lichts gegen das Dunkel bei Lukianenko, Bulgakows Voland und sein Kater Begemot - es gibt sogar einen deutschen Dichter – er heisst, wenn ich mich recht erinnere sogar Hoffmann, der in einer seiner Geschichten drei Teufel in der Banja ein Bankett veranstalten und ein nacktes Mädchen namens Tanjuscha verspeisen lässt. Da bist du, cha-cha, nochmal richtig gut weggekommen … 

Nun nimm und trink was von dem, womit du heute nacht aufgehört hast. – Danach führte er uns durch „seinen“ Kolchos mit dem Stolz des Dorfes, die Legebatterie mit zweitausend Hühnern, unter denen sich der Hahn befinden musste, der mir mit seinem Krähen am  Neujahrsmorgen die Freiheit bewahrt hatte.

Am späten Nachmittag verabschiedete uns das Dorf an der Bahnstation mit allen guten Neujahrswünschen. Maria war nicht dabei. Als wir mit der „Elektritschka“ wieder nach Moskau fuhren, jubelten meine Freunde voller Glückseligkeit, eine einzigartige Neujahrsnacht erlebt zu haben. Ich aber schwieg und grübelte mit traurigem Herzen, zerrissener Seele und schwerem Schädel – weil ich nicht einmal daran zu denken wagte, welchen meiner Freunde Maria in der Neujahrsnacht noch berührt (oder gebissen?) hatte ...

Im heißen Sommer des Jahres 1973 erhielt ich einen Anruf. Er kam von Maria, die mir eröffnete, dass sie in Deutschland sei und mich unbedingt treffen müsse. Ich war höchst verlegen und erklärte ihr kurz, dass ich buchstäblich vor meiner Hochzeit stünde, trotzdem aber gerne bereit sei, sie zu sprechen – wo sie denn abgestiegen sei …? Ein kurzer Moment, in der ich zwei hungrige Augen auf mich gerichtet spürte, danach ihre Stimme, die in kaltem Ton entgegnete, FESTSTELLTE, dass ein Hungriger und Dürstender niemals mit einem Satten auf einen Nenner kommen könne. Dann klickte es – und im Hörer war es still.

Maria sah ich nie wieder. Viele Jahre später erzählte mir ein Freund, dass sie mit einem unserer früheren Moskauer Aspiranten, einem staubtrockenen und farblosen Bücherwurm nach Jena gegangen sei. Dort wurde sie im Morgengrauen nach einer Vollmondnacht gefunden – tot, auf den rostigen Gleisen einer schon lange Zeit stillgelegten Vorortbahn.

*) Dt.: Ja, zweifellos geschehen in der Neujahrsnacht seltsame Dinge. Aber wie du sicherlich weisst ...
(1969 / aufgezeichnet 2018) 
Nach einer wahren Begebenheit, die an die fortwirkende Wertschätzung und Kraft mystischer Erscheinungen im russischen Volksglauben erinnert.

Die handelnden Personen sind real, die Namen wurden geändert. 

Dr.-Ing. Architekt Frieder Hofmann 
gpfhofmann@parus-le.de    

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Aktualisierung: Juli 2025 

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